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Predigt von Bischof Dr. Michael Gerber zum Elisabethtag 2023 in der Martinskirche Kassel mit Statio vor der eingestürzten Elisabethkirche

Liebe Schwestern und Brüder! Erinnern Sie sich noch an die Perle? Unzählige solcher Perlen lagen während unserer Installation anlässlich der Documenta in jenem Gefäß mitten in der Elisabethkirche. Wir waren eingeladen, uns eine Perle mitzunehmen. Die Perle, die ich mir beim Eröffnungsgottesdienst mitnahm, liegt seither – passenderweise in einer Muschel – an einem besonderen Ort in meiner kleinen Hauskapelle. Bei jeder Gebetszeit schaue ich auch auf die Perle. Ich glaube, dass uns diese Perle viel erzählen kann, wenn es um die kirchliche Vielfalt in fruchtbarer Spannung der Einheit geht, die Jesus Christus schenkt. Warum?

Schauen wir auf die Heilige Elisabeth. Im Bild der Perle ausgedrückt, können wir sagen, Elisabeth war eine ausgeprägte Perlentaucherin. Was meine ich damit? Elisabeth, die Landgräfin, ist eingetaucht in das bitterarme, notvolle Leben derer, von denen sich die Adeligen der feinen Gesellschaft zutiefst abgestoßen fühlten: Gestank, Krankheitserreger, verdreckt, nach Unrat und Urin riechend. Weit weg war das von der Wartburg, ganz da unten. Elisabeth ist eingetaucht in das Leben dieser Menschen „da unten“. Sie hat ihnen konkret geholfen. Beispielhaft für viele konkrete Hilfen steht das Brot.

Doch Elisabeth – der Perlentaucherin – ging es um mehr. Dafür stehen die Rosen. Brot, Seife, Medizin und vieles andere sind unabdingbar, damit ein Mensch menschlich leben kann. Brot, Seife, Medizin und vieles andere schenke ich einem Menschen also, damit er oder sie menschlicher leben kann. Und die Rose? Mit ihr zeige ich einem Menschen, wie dankbar ich dafür bin, dass er oder sie Mensch ist, wertvoll ist, ohne, dass sie oder er etwas dafür tun muss. Mit der Rose zeige ich, dass ich daran glaube, dass in diesem Menschen eine wunderbare Perle verborgen ist. Mag die Schale auch noch so rau sein, ich glaube an die Perle in meinem Gegenüber.

Das ist ein wesentlicher Aspekt, wenn es darum geht, in Spannungen zwischen Menschen die Einheit zu erfahren, die Jesus Christus schenkt. Bei aller Spannung, bei allem, was mir da entgegenkommt, ich glaube an die Perle im Anderen. Und wenn ich mich noch so überwinden muss – in der Heiligen Elisabeth habe ich da eine gute Begleiterin. Einheit in fruchtbarer Spannung, das bedeutet immer wieder runter von der Burg, hinein in das Befremdliche auf der Suche nach der Perle. Ich glaube, die Heilige Elisabeth bietet auch heute Grundkurse und Fortbildungskurse für Perlentaucherinnen und Perlentaucher an und wir sind mittendrinnen.

Denn das mit der fruchtbaren Spannung ist nicht harmlos. Was ist, wenn die Spannung zu groß wird? Bei Elisabeth war das der Fall. Die Spannung zwischen ihrem Tun und den Normen der höfischen Gesellschaft war sehr groß. Dahinter steckten zur damaligen Zeit große Fragen der Kirchenentwicklung. Die Frage damals: Ist das, was Elisabeth inspiriert von der großen Armutsbewegung des Mittelalters als Landgräfin da praktizierte, ist das was nur für ein paar „erlesene Spinner“ oder soll das für die Kirche und die damalige Gesellschaft kulturprägend sein. Als Elisabeths Mann überraschend stirbt, wird die Spannung zur Verwandtschaft zu groß und die junge Mutter muss die Wartburg verlassen. Das ist die schmerzvolle Erfahrung von Elisabeth in ihren jungen Jahren: Die Spannung kann zu groß werden, das Band kann reißen. Wie viele von uns haben auch diese Erfahrung gemacht?

Fruchtbare Spannung – ist das einer der vielen Begriffe in unserer Kirche, die Schmerzvolles schönreden? Seit dem Montag vergangener Woche kommen mir – und wohl vielen anderen auch – ganz andere Bilder in den Kopf, wenn von Spannung die Rede ist. Spannung im Kirchengebälk. Es knackt und kracht in der Kirche. Der Druck und die Spannung sind allzu groß. Was war schuld? Zu großer Druck von außen, ungenügendes Material, einfach Zahn der Zeit, das Überkommene, lange Zeit Tragende, trägt nicht mehr? Wir forschen noch nach den Ursachen. Die Folge jener Überspannung: Was schützen sollte, bringt Menschen unvermittelt in Lebensgefahr. Gutes Zureden hilft da nicht, positives Denken genauso wenig. Gilt das in unserer Kirche nur für das Kirchendach?

Irgendwann krachte es also. Die Folgen sind bekannt, wir sind dankbar, dass niemand physisch verletzt wurde. Würde heute jemand in die Elisabethkirche gehen, so würde er auch bei intensiver Suche keine Perle finden, sondern nur Schutt. Weil die Spannung zu groß war. Außerdem wäre es lebensgefährlich. Ein einfacher Bauhelm würde nicht genügen, um sich angemessen zu schützen. Heilige Elisabeth, was passiert da gerade? Ist das ein Perlentauchkurs für Fortgeschrittene?

Wer jetzt in der Kirche nach einer Perle sucht, findet keine. Wer jetzt in der Kirche nach einer Perle sucht, findet keine. Dieser Satz als Jahresmotto für 2024 wäre vermutlich wenig schmeichelhaft. Keine Perle ist mehr in der Kirche. Vielmehr erleben wir die Folgen geborstener Spannung - Bilder, aufgenommen von Drohnen, die uns bewegen. Ein solches Foto wurde mir gestern zugesandt. Es lässt mich nicht mehr los. Ich habe es Ihnen mitgebracht. In der Mitte hängt immer noch an der Chorwand von St. Elisabeth das Kreuz, den allermeisten von uns sehr bekannt. Genau auf dieses Kreuz würden wir jetzt miteinander schauen, wenn da nicht der Montag vor einer Woche gewesen wäre.

Das Kreuz hängt immer noch in der Mitte. Aus der heutigen Perspektive hängt es mittendrin – mitten in der geborstenen Spannung. Mir hat dieses Motiv noch einmal neu erschlossen, worum es geht, wenn wir von Jesus und der Spannung sprechen. Er Jesus, ist mittendrin. Er ist gerade da, wo die Spannung zur Überspannung wurde und der Riss sich auftat, größer oder kleiner. ER – Jesus – ist gegenwärtig im Riss, im Staub und in den Scherben unseres Lebens. Auf eine so krasse Installation, wie sie uns gerade die Elisabethkirche bietet, auf eine so krasse Installation wäre in 100 Jahren keine Künsterin, kein Künstler der Documenta gekommen. ER, Jesus im Riss und ER im Kreuz zugleich selbst getroffen vom Geschehen. Auch im Kreuz hängt ein Stück der heruntergefallenen Decke.

Wo die Spannung zu groß wird – ER im Riss unserer Kirche und ER im Riss unseres Lebens. Das war die Grunderfahrung der Heiligen Elisabeth, als sie sich bei denen, die ganz unten sind, in Marburg wiederfand. Und mir scheint es, als ob Elisabeth uns mit ihrer so ramponierten Kirche, die ja eigentlich unsere ramponierte Kirche ist, mir scheint, als ob sie uns heute sagen will: Sorgt Euch nicht jetzt darum, wie soll da was wieder aufgebaut werden. Sorgt Euch darum nicht jetzt. Lasst da jetzt, in diesen Wochen erst mal die Fachleute und Statiker ran.

Aber sorgt euch umso mehr um das andere Dach, um das weite Zelt, von dem der Herr zum Propheten Jesaja spricht: „Macht den Raum meines Zeltes weit…“ Sucht die Perlen gerade bei denjenigen, die Euch fremd sind, deren Leben und Überzeugungen in einer Spannung zu Eurem Leben und Euren Überzeugungen sehen. Spannt dieses Zelt, das ich damals von Ungarn bis nach Thüringen und von der Wartburg bis nach Marburg gespannt habe. Spannt dieses Zelt zwischen Elisabeth und Martin, zwischen evangelisch und katholisch, zwischen Baunatal und Sankt Familia, zwischen denen in der Ukraine, für die ihr die Hilfsgüter packt und jenen, deren Städte im Heiligen Land ihr in den Texten der Heiligen Schrift findet. Spannt dieses Zelt und findet Jesus in der Perle, die in jedem Menschen verborgen ist. Spannt dieses Zelt und findet Jesus in der Perle – und im Riss. Amen.